Visionen, aber keine Luftnummern
Landkreis München geht neue Wege bei der Weiterentwicklung des Öffentlichen Verkehrs
"Die Mobilität ist eines der Schlüsselthemen der Zukunft", stellte Landrat Christoph Göbel beim Workshop "Perspektiven im öffentlichen Personennahverkehr im Landkreis München" am vergangenen Dienstag, 19. Juli, im Bürgerhaus der Gemeinde Haar fest. Sie sei einer der maßgebenden Faktoren im Spannungsfeld zwischen Fachkräftemangel, Wohnraumknappheit sowie Leben und Arbeiten im Großraum München.
Seit Herbst 2015 läuft die Studie "Perspektiven im öffentlichen Personennahverkehr im Landkreis München". Sie hat zum Ziel, langfristige Perspektiven und Visionen zur Weiterentwicklung und Ergänzung der bestehenden ÖPNV-Infrastruktur im Landkreis zu erarbeiten. Dabei spielen die Entwicklung der Siedlungsstruktur sowie der Landschaft eine wichtige Rolle. Die Studie blickt dabei bewusst über die Grenzen der Zuständigkeiten des Landkreises hinaus.
Zwischenergebnisse präsentiert
Am Dienstag stellten die vom Landkreis München beauftragten Planer, ein interdisziplinäres Team unter der Leitung des Planungsbüros Ernst Basler + Partner AG in Zürich in Zusammenarbeit mit der TU München, Lehrstuhl für Raumentwicklung und Fachgebiet für Siedlungsstruktur und Verkehrsplanung, sowie dem Fachbüro Studio | Stadt | Region in München, der Öffentlichkeit ihr Zwischenergebnis vor. Auf dieser Basis wurde dann rund vier Stunden mit verschiedensten Akteuren aus Politik und Verwaltung, von Verbänden, Vereinen, Initiativen und Bildungseinrichtungen sowie interessierten Bürgerinnen und Bürgern diskutiert.
Landrat Göbel appellierte zu Beginn der Veranstaltung an die rund 100 Teilnehmerinnen und Teilnehmer, die Ergebnisse, in die auch die 1700 Antworten einer Onlinebefragung zum Jahreswechsel 2015/2016 eingeflossen sind, mit unverstelltem, visionären Blick zu diskutieren. "Es geht darum, über eine reine 'Reparatur' der bestehenden Situation hinaus, quasi an einen Idealzustand zu denken, ohne gleich Fragen der Finanzierung oder detaillierter räumlicher Gegebenheiten als unüberwindbare Hindernisse mitzudiskutieren." Was sich so einfach anhört, war für viele der äußerst kenntnis- und ideenreichen Teilnehmer nicht immer ganz so leicht, hat man doch die Argumente vieler lokaler Akteure immer im Hinterkopf.
Für die Diskussion untergliederten die Planer den Landkreis München in drei Teilräume. Für jeden dieser Bereiche stellten sie den Teilnehmern Verbesserungspotentiale am bestehenden System vor, gleichzeitig machten sie visionäre Vorschläge, die anschließend diskutiert wurden. Dass diese nicht völlig aus der Luft gegriffen waren, sondern dass den Vorschlägen ein vertieftes Studium vorhandener Prognosezahlen oder auch als gesetzt geltender Rahmenbedingungen, wie der Errichtung der zweiten Stammstrecke, zugrunde lagen, machten die Experten zuvor deutlich.
Der Norden
Für den Münchner Norden, dessen Entwicklung insbesondere durch die Nähe zum Flughafen sowie den weiter anwachsenden Wissenschaftsstandort geprägt ist, stellten die Planer zum einen eine neue Stadtbahn zur Diskussion, die die Standorte Ober- und Unterschleißheim sowie Garching verbinden soll. Darüber hinaus wurde über eine Verlängerung der U6 bis nach Neufahrn nachgedacht, die Garching eine attraktivere öffentliche Flughafenanbindung bescheren würde. Insbesondere der tangential verlaufenden Stadtbahn standen die Teilnehmer am Thementisch Nord mit Skepsis gegenüber, auch wenn sie die Verbindung eigentlich als sinnvoll erachteten. Befürchtet wurden u.a. große Vorbehalte in der Bevölkerung aufgrund der zu erwartenden Siedlungsentwicklung. Mehr unter den Nägeln brannte den Diskutierenden die Behebung bestehender Schwachstellen bei der S-Bahnlinie 1.
Der Osten
Auch der Münchner Osten steht noch unter dem Einfluss des Flughafens. Darüber hinaus spielen die Verbindungen in die Nachbarlandkreise Erding und Ebersberg eine besondere Rolle. Ein überregionaler Anziehungspunkt ist die Messe München, für die eine bessere Flughafenanbindung wichtig wäre. Für den Münchner Osten stellten die Experten zwei neue S-Bahnverbindungen vor: eine Tangente, die von Dachau über Unterföhring, Aschheim, Feldkirchen über die Messe bis nach Haar führen könnte, sowie eine zweite Linie, die die Messe über Aschheim mit Pliening im Landkreis Ebersberg verbinden könnte. In beiden Fällen würden sich die Reisezeiten zwischen der Messe und dem Flughafen merklich verringern und sich auch auf andere Beziehungen zeitlich positiv auswirken. Auch beim Thementisch Ost schien die Lösung aktueller Schwachstellen bei den Teilnehmern im Vordergrund zu stehen. Schließlich ließen sich die Akteure jedoch auf die Entwicklung einer langfristigen Vision ein und diskutierten sogar über Expressbuslinien und Fahrradautobahnen.
Der Südwesten
Auch für den Münchner Süden und Südwesten, in dem die Pkw-Motorisierungsrate ganz besonders hoch ist, diskutierten die Planer sowohl für das Hachinger als auch das Isar- und Würmtal vielfältige Ideenskizzen mit den Teilnehmern wie zum Beispiel eine neue Stadtbahn an das bestehende U-Bahn- oder Trambahnnetz an der Stadtgrenze anzuschließen und weiter bis nach Ottobrunn zu führen. Auch in Martinsried denken die Verkehrsexperten über die Möglichkeit einer Stadtbahn nach, die über Planegg bis nach Germering führen könnte - als Verlängerung der U6, die in absehbarer Zeit bis zum Forschungscampus in Martinsried weitergeführt werden wird. In Germering könnte sie dann an die S8 anschließen. Am Thementisch Südwest traute man sich, am visionärsten zu diskutieren. Hier wurden ganz neue Aspekte eingebracht wie eine Verbindung zwischen Deisenhofen und dem Bahnhof Menterschwaige per Seilbahn, was eine Zeitersparnis von fast einer Stunde bringen würde. Auch über autonome Expressbusse, also ohne Fahrer, vom Südwesten bis nach Haar wurde nachgedacht. Bei der von den Planern vorgeschlagenen Radialachse zwischen Martinsried und Germering wurden auch verschiedene Anschlussmöglichkeiten an bestehende Verkehrssysteme, so auch die Autobahn mit einzurichtendem Park & Ride Platz, in den Blick genommen.
"In Deutschland nicht selbstverständlich"
Am Ende der vierstündigen Veranstaltung dankte Gabriele Hubitschka-Gessner, verantwortlich für den ÖPNV im Landratsamt München, nicht nur dem engagierten Teilnehmerkreis sowie den Verkehrsexperten, sondern auch dem Kreistag für die Möglichkeit, Dinge zu tun, die in Deutschland nicht selbstverständlich seien. Schon bei der Erstellung des Nahverkehrsplanes ist der Landkreis den Weg gegangen, sowohl über die Landkreisgrenzen hinaus zu blicken und nicht nur nachfrage-, sondern auch angebotsorientiert zu denken. Mit der Studie "Perspektiven im öffentlichen Personennahverkehr im Landkreis München" sei man nun einen weiteren Schritt gegangen, der es ermöglicht, Planungen aus verschiedenen Bereichen wie Siedlungsentwicklung, Wirtschaftsförderung und Landschaftsschutz miteinander zu verknüpfen. Sobald die Planer sämtliche Erkenntnisse zu einem Gesamtergebnis zusammengetragen haben, wird sich der Kreistag damit befassen, wie und wer die Planungskonzepte weiterverfolgen wird. Die Ergebnisse des Workshops werden auch auf der Homepage des Landratsamtes veröffentlicht.